Kolossale Klänge
Die „Gurre-Lieder“ zu Schönbergs 150. Geburtstag
Eine umfassende Konzertreihe der Saison 2023/24 mit Werken von Arnold Schönberg zu dessen 150. Geburtstag findet am 13. und 14. September 2024 ihren krönenden Abschluss mit den im Großen Musikvereinssaal uraufgeführten „Gurre-Liedern“. Es sind zugleich die ersten Konzerte, die Petr Popelka als neuer Chefdirigent der Wiener Symphoniker leitet.
© Arnold Schönberg Center, Wien
Mit seinen „Gurre-Liedern“ setzte Arnold Schönberg einen kolossalen Auftakt zum musikalischen 20. Jahrhundert. Sie gelten als ein Hauptwerk in Schönbergs erster Schaffensperiode, welche im Zeichen der (erweiterten) Tonalität steht. Anlass zur Komposition gab ein Preisausschreiben des Wiener Tonkünstler-Vereins für einen Liederzyklus mit Klavier. Angeregt durch seinen Freund Alexander Zemlinsky, begann Schönberg im März 1900 die Vertonung einer Gedichtreihe des dänischen Dichters Jens Peter Jacobsen für Sopran und Tenor. Bald schon fiel die Entscheidung, den Klavierliederzyklus um Vor- und Zwischenspiele sowie weitere Teile zu ergänzen und die Besetzung massiv zu erweitern. Die Instrumentation wurde im August 1901 begonnen und bis 1903 fortgesetzt, jedoch bald für mehrere Jahre unterbrochen. Die positive Rezeption des „Gurre-Lieder“-Vorspiels in Anton Weberns Transkription für vier Pianisten an zwei Klavieren im Jänner 1910 motivierte Schönberg schließlich dazu, das Werk zu vollenden, und die Uraufführung am 23. Februar 1913 im Großen Musikvereinssaal mit dem Vorgängerorchester der Wiener Symphoniker unter der Leitung von Franz Schreker wurde zu einem triumphalen Erfolg.
© Arnold Schönberg Center
Schönbergs in der Spätromantik wurzelnde Musik ist von einer Klangwelt tonalen Zuschnitts in der Nachfolge Richard Wagners berührt. Wagners Chromatik und Alterationsharmonik spielt in die Komposition, die Julius Korngold als eine Entdeckungsreise „auf dem Grunde des Tristanchromas“ bezeichnete, mannigfaltig hinein. Für den an poetischen Bildern reichen Text bedient sich Schönberg eines kolossalen Klangapparates: Die Partitur schreibt neben fünf Gesangssolisten und einem Sprecher drei vierstimmige Männerchöre, einen achtstimmigen gemischten Chor und ein riesenhaftes Orchester vor. Jacobsens episch-lyrischer Text thematisiert die Liebesbeziehung zwischen dem Dänenkönig Waldemar und seiner Geliebten Tove auf dem Jagdschloss Gurre. Toves von der rachsüchtigen Königin verursachter Tod, die lästerliche Gottesanklage Waldemars und seine Bestrafung mit der Verdammung zu allnächtlicher wilder Jagd mit seinen Mannen bieten die Möglichkeit für die Einbeziehung weiterer Stimmen. Das „Erlösungsmysterium“, ein Begriff, den Constantin Floros prägte, stellt Naturbild neben Liebesseligkeit, spricht von Tod und Trauer, bringt zarte Farben, helle Pracht und höllischen Wirbel in vielschichtigem Farbenreichtum.
Der erste Teil der „Gurre-Lieder“ umfasst ein Vorspiel, neun Lieder Waldemars und Toves, ein längeres Orchesterzwischenspiel und das Lied der Waldtaube: Waldemar und Tove singen abwechselnd von ihren Stimmungen, ihren Sehnsüchten und der Erfüllung ihrer Liebe. Die dämmerige Stimmung der Natur verleitet zu mystischer Versenkung ins Ich, in einer Mischform aus Elegie und Ballade kündet die Stimme der Waldtaube vom Tod Toves. Den kurzen zweiten Teil bestimmen Trauer und Leid Waldemars, der Gott der Grausamkeit anklagt und den Vorwurf erhebt, dieser habe ihn seines einzigen Glückes beraubt. Im ausgedehnten dritten Teil wird eine wilde nächtliche Jagd in Form einer Chorballade beschrieben, in die zwei lyrische Episoden (Waldemars Sehnsucht nach Tove und seine neuerliche Auflehnung gegen Gott) eingebettet sind. Mit den Stimmen des vom nächtlichen Treiben erschreckten Bauern und des Narren werden „abergläubische Volksfrömmigkeit und zynisch-selbstgefälliger Glaubens-Pragmatismus“ (Hans-Joachim Hinrichsen) eingeführt. Das in Sprechstimme vorgetragene Melodram „Des Sommerwindes wilde Jagd“ lässt die Schattenbilder verschwinden, düstere Visionen weichen helleren Vorstellungskreisen. Das Werk schließt mit der von einem gemischten Chor und großem Orchester intonierten hymnischen Vision der aus den Fluten der Nacht aufsteigenden Sonne.
Therese Muxeneder