Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? Literaturnobelpreisträgerinnen seit 1901
Von Brigitte Schwens-Harrant
17.02.2025
Durch eine „Zweite Geburt“ wurde Nadine Gordimer erwachsen. So beschrieb sie es 1977 in Kapstadt in ihrer Rede „Was es für mich bedeutet, Südafrikanerin zu sein“. Sie meinte damit den „Moment, wenn das Kind zu erkennen beginnt: Die Tatsache, dass der Schwarze das Haus des Weißen nicht durch die Vordertür betritt, gehört nicht zu derselben Kategorie von Tatsachen wie die, dass die Toten nicht zurückkommen.“
Als Gordimer 1991 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, begann sich das Apartheidsystem gerade erst aufzulösen, die rechtliche Gleichstellung aller Südafrikaner:innen war noch nicht hergestellt. Bereits Jahrzehnte zuvor aber hatte Gordimer sich für die Abschaffung der Apartheid engagiert und über das Unrechtssystem und seine Auswirkungen in ihren literarischen Werken geschrieben. „Die Menschen werden nicht als Brüder geboren, sie müssen sich gegenseitig entdecken, und diese Entdeckung versucht die Apartheid zu verhindern“, schrieb die Tochter von Einwanderern 1959.
Dass Rassismus eine gemachte „Tatsache“ ist, wusste auch die afroamerikanische Schriftstellerin Toni Morrison, die dieses Thema in ihrer Literatur auf einzigartige Weise erzählend analysierte. Sie zeigte mit ihren Texten, welche furchtbaren Auswirkungen die grauenhafte Erfindung des Rassismus auf die Gesellschaft und den einzelnen Menschen hat. Ihr Roman „Beloved“ (1987) gehört zu den wichtigsten literarischen Werken der USA, er erzählt die Folgen der Sklaverei bis ins Innerste einer Frau: „Dass jeder hergelaufene Weiße dich ganz und gar und zu allem benutzen konnte, was ihm gerade einfiel. Nicht nur, um dich arbeiten zu lassen, dich umzubringen oder zu verstümmeln, sondern auch, um dich zu beschmutzen. Dich so schlimm zu beschmutzen, dass du dich selbst nicht mehr leiden konntest. Dich so schlimm zu beschmutzen, dass du vergaßt, wer du warst und dass es dir auch nicht mehr wieder einfiel.“ Mit Toni Morrison erhielt 1993, 92 Jahre nach der ersten Vergabe des Preises, zum ersten Mal eine Afroamerikanerin den Nobelpreis für Literatur. In ihrer Literatur kann man nicht nur der Frage nachspüren, wie sich Rassismus auswirkt, sondern auch welche Funktion dieses Konstrukt und Klassifikationssystem hat. Man definiert Außenseiter, um das eigene Selbstbild zu klären, sich der eigenen Normalität zu versichern.
Toni Morrison und Nadine Gordimer: zwei literarisch unterschiedliche, zwei so wichtige Autorinnen von insgesamt nur achtzehn (!) Frauen, die seit 1901 den Nobelpreis für Literatur erhalten haben. Angesichts von insgesamt 121 verliehenen Auszeichnungen ist das ein mageres und peinliches Fazit, das auch jener Statistik entspricht, die man in Literaturgeschichten zu sehen bekommt: Der Kanon ist immer noch männlich geprägt, als hätte es keine schreibenden Frauen gegeben. Die Verleihung der Preise, das ist eine Binsenweisheit, die aber hier und immer wieder wiederholt werden soll und muss, erzählt mehr über die Gesellschaft als darüber, ob es nicht auch andere Literatur gegeben hätte als jene von mehr oder weniger berühmten Männern.
Erst 1991 setzt langsam ein, was der Nobelpreis für Literatur von jeher hätte leisten können: großartige Autorinnen, und zwar aus aller Welt, vor den Vorhand zu bringen.

Dabei hat mit der Schwedin Selma Lagerlöf bereits 1909 eine Autorin den Preis erhalten, die in ihren Werken unter anderem tradierte Geschlechterverhältnisse in Frage stellt und selbstbewusste Frauen zeigt. Doch ihr Blick schien sich auf die Juryentscheidungen der folgenden Jahre nicht weiter auszuwirken. Erst 17 Jahre später wurde mit der Sardin Grazia Deledda eine Autorin „für ihre von Idealismus inspirierten Werke“ ausgezeichnet, „die mit Anschaulichkeit und Klarheit das Leben auf ihrer Heimatinsel schildern und mit Tiefe und Wärme allgemein menschliche Probleme behandeln“.
Mit Sigrid Undset kam 1928 wieder eine Autorin in den Blick, die sich mit der Thematik Tradition versus Emanzipationsbestrebungen auseinandersetzte; mit Pearl S. Buck erlangte 1938 eine Autorin Weltruhm, die als Tochter eines amerikanischen Missionars unter anderem das Leben chinesischer Bauern beschrieb. 1945 erhielt mit der Chilenin Gabriela Mistral dezidiert eine Lyrikerin den Preis.
Es mussten weitere 21 Jahre vergehen, bis 1966 mit der Lyrikerin Nelly Sachs wieder eine Frau ausgezeichnet wurde. Allerdings musste sie sich den Preis mit dem israelischen, auf Hebräisch schreibenden Autor Shmuel Yosef Agnon teilen, mit dem sie nur verband, dass beide jüdischer Herkunft waren. Ihre berühmt gewordenen Gedichte hatte Nelly Sachs nicht in ihrer Geburtsstadt Berlin, sondern im schwedischen Exil geschrieben. Kurz bevor sie 1940 von den Nationalsozialisten abgeholt worden wäre, konnte sie mit ihrer Mutter fliehen. Selma Lagerlöf hatte ihr zu einem Visum verholfen.
Es folgt eine große Lücke, die ein schlechtes und bedeutsames Licht auf Gesellschaft und Literaturbetrieb dieser Jahre – immerhin angeblich Jahre der Emanzipation und des Aufbruchs – wirft, bis 1991 endlich Nadine Gordimer ausgezeichnet wird. Erst nun setzt langsam ein, was der Nobelpreis für Literatur von jeher hätte leisten können: großartige Autorinnen, und zwar aus aller Welt, vor den Vorhang zu bringen.
Tatsächlich werden in den folgenden Jahren Meisterinnen ihres Fachs geehrt. Die polnische Dichterin Wisława Szymborska (1996) offenbart in ihrer eindrücklichen Lyrik unerwartete Einsichten und rettet nicht nur in ihrem Gedicht „In die Arche“ Dinge wie etwa die so wichtige „Lust, eine Sache von sechs Seiten zu betrachten“ vor dem Untergang. Die österreichische Autorin Elfriede Jelinek (2004) weiß wie kaum eine andere, gnadenlos und unaufhaltsam mit Sprache die Sprache und damit immer auch politische Mechanismen aufzubohren. Doris Lessing (2007), 1919 in Südrhodesien (heute Simbabwe) geboren, erforschte schreibend den Kolonialismus wie auch die englische Klassengesellschaft. Herta Müller (2009) musste die rumänische Diktatur erleben und befragt mit ebenso präzisen wie poetischen Sätzen immer auch die Sprache selbst. Die Kanadierin Alice Munro (2013) lenkt in faszinierenden Kurzgeschichten den Blick ins menschliche Mit- und Gegeneinander.
Die in der Ukraine geborene und in Belarus aufgewachsene Autorin Swetlana Alexijewitsch (2015) fand von journalistischen Interviews ausgehend zu einer eigenen literarischen Gattung, dem dokumentarischen „Roman in Stimmen“. Die Polin Olga Tokarczuk, die 2019 rückwirkend für das Jahr 2018 ausgezeichnet wurde, sprach anlässlich der Preisverleihung in ihrer Rede von der Suche nach der Perspektive einer „Zärtlichen Erzählerin“, „die es schafft, die Perspektiven jedes ihrer Charaktere zu umfassen, aber auch über ihrer aller Horizont hinaus zu treten, eine, die mehr sieht und eine weitere Sicht hat, und die durch die Zeit gehen kann“. Die US-Amerikanerin Louise Glück wurde 2020 für ihre „unverwechselbare poetische Stimme“ geehrt. Annie Ernaux (2022) wiederum befragt in ihrer autofiktionalen Prosa mit der Distanz einer Ethnologin das eigene Leben als Quelle einer genauen Gesellschaftsanalyse. Und 2024 wurde mit der Südkoreanerin Han Kang eine Autorin ausgezeichnet, die sich in ihren Werken auch die dunklen Seiten des Menschen ansieht. Wozu ist der Mensch fähig? – fragt sie unter anderem mit ihrer Literatur, und ihre Fragen können weitergereicht werden an jene Preisträgerinnen, die noch folgen werden. Was bedeutet es, ein Mensch zu sein?
Samstag, 1. März 2025
Julia Stemberger | Lesung
Mitra Kotte | Klavier
Prosa, Lyrik und Briefe von
Selma Lagerlöf, Nelly Sachs, Wisława Szymborska, Herta Müller, Olga Tokarczuk, Han Kang u. a.
Musik von
Nadja Boulanger, Cécile Chaminade, Maria Hofer, Dora Pejačević und Vítězslava Kaprálová