Dirigieren als Berufung: Yannick Nézet-Séguin
Von Paul-Henri Campbell
13.03.2025
Am 10. September 1984 besucht Papst Johannes Paul II. auf einer zweitägigen Reise durch Québec die Stadt Montréal, wo er in Jarry Park eine Heilige Messe unter freiem Himmel zelebriert. Auch der neunjährige Yannick Nézet-Séguin, jetziger Musikdirektor der Metropolitan Opera in New York City, lässt sich in seiner Heimatstadt vom Charisma des Pontifex anstecken. Ein privates Video zeigt den Jungen wenige Tage später im Garten mit einer selbstgebastelten Mitra, Bischofsstab und Chormantel, wie er die Messe spielt und die Erwachsenen mit erhobenen Armen segnet. Später wird die „New York Times“ einmal schreiben: „Er klopft mächtig an den Pforten des Himmels.“
Im Interview sagt der 1975 geborene Kanadier: „Mein Verhältnis zur Religion ist vielschichtig. Im Christentum gibt es die Idee, sich berufen zu fühlen. Schon früh merkte ich, dass meine Berufung das Dirigieren ist.“ Als er mit 19 Jahren künstlerischer Leiter des Chœur polyphonique de Montréal wird, lernte er seinen Mentor Carlo Maria Giulini (1914–2005) kennen. Bis heute dirigiert er auch das Orchestre Métropolitain in Montréal, bei dem er im Alter von 25 Jahren seine erste Chefposition angetreten hatte. Sechshundert Aufführungen später bezeichnet er diesen Klangkörper noch immer als eine seiner ersten musikalischen Familien: „Montréal ist mein Heimathafen. Es ist der Ort, an dem ich geboren wurde, aufgewachsen bin und meine musikalische Ausbildung erhalten habe. Es ist der Ort, an dem meine Familie lebt.“
Im Gespräch sagt er: „Wenn du ein guter ‚leader‘ sein willst, dann musst du den Menschen dienen, die du führst.“ Immer wieder kommt er auf den Begriff „service“ (dt. „Dienst“) zu sprechen: „Es ist egal, ob du einer Familie vorstehst oder der Regierung eines Landes. Es ist wichtig, dass du den Menschen dienst, die du führen willst. Das gilt besonders für die Musik: Ich diene den Musiker:innen, die in meinen Orchestern den Klang hervorbringen. Ich möchte, dass sie ihr ganzes Potenzial entfalten können. Dazu müssen sie Wertschätzung wahrnehmen, sich inspiriert fühlen und auch einen ‚safe space‘ haben, um sich auszudrücken.“ Er betont, dass dies die Hauptaufgabe für ihn als Dirigent sei, und „auf diese Weise diene ich natürlich auch der Partitur, also der Komposition, und infolgedessen auch dem Publikum“.
Aus diesem Ethos heraus richtete Yannick Nézet-Séguin, in seiner Rolle als Musikdirektor des Philadelphia Orchestra und der Metropolitan Opera in New York, einen offenen Brief an den ehemaligen US-Präsidenten Joe Biden. Während der ersten Trump-Administration, die im Jänner 2021 mit dem Sturm auf das Kapitol ihrem traurigen Tiefpunkt zusteuerte, erlebten zentrale Kultureinrichtungen Amerikas, wie der National Endowment for the Arts (NEA), nicht nur Kürzungen, sondern wurden von selbsterklärten Kulturkämpfern und Stars aus dem Reality-TV als „überflüssige Einrichtungen“ verhöhnt. Der knapp fünfzigjährige Dirigent aus Manhattan jedoch suchte so nach der Pandemie nicht nur einen Neustart, sondern wollte kulturpolitische Akzente in der öffentlichen Debatte setzen. Deshalb schrieb er im offenen Brief: „Ihre Präsidentschaft beginnt inmitten einer turbulenten Zeit. Die Kunst kann helfen zu heilen, den Dingen einen Ausdruck zu geben und vielfältige Stimmen zu vereinen.”

Durch seine Arbeit in Kanada, Europa und den Vereinigten Staaten lernte der Dirigent zahlreiche Settings kennen, in denen der Opern- und Konzertbetrieb gedeihen konnte. Er leitete zum Beispiel mehrere Spielzeiten das Rotterdam Philharmonic Orchestra, dessen Ehrendirigent er heute ist. Auch zahlreiche Gastdirigate, etwa an der Mailänder Scala oder der Covent Garden Opera in London, ermöglichten ihm Erfahrungen in unterschiedlichen Kontexten.
„Weißt du“, beginnt er, als er im Interview kurz nach der US-Wahl 2024 nochmals auf seinen kulturpolitisch motivierten Brief angesprochen wird, „ich leite die zwei wichtigsten Musikorganisationen in den USA. Da ist es unumgänglich, politisch engagiert zu sein. Aber ich sehe meine Rolle nicht als politischer Aktivist. Vielmehr nehme ich meine Rolle als musikalischer Akteur ernst. Sicherlich ist die Situation in den USA anders als in Europa. Québec ist vermutlich zwischendrin. Klar ist aber, dass die Künste fragil sind.“ Er spielt auf die Kürzungen in Berlin im Kulturbereich an und hebt hervor, was Wien für ein besonderer Ort ist: Insbesondere in der Musik könnten einzelne Entscheidungen jahrelange Bemühungen auf Jahrzehnte hin beschädigen.
„Ich leite die zwei wichtigsten Musikorganisationen in den USA. Da ist es unumgänglich, politisch engagiert zu sein.“
Yannick Nézet-Séguin
„Es geht nicht nur darum, ob die Künste öffentlich gefördert werden oder durch private Spenden finanziert sind. Ich habe in New York großartige Förderer der Met kennengelernt. Das hat auch eine gewisse Schönheit, denn diesen Mäzenen ist das, was hier passiert, äußerst wichtig.“ In diesem Zusammenhang hebt er hervor, dass Menschen in Europa die staatlich geförderten Museen, Theater, Opern- und Konzerthäuser manchmal für selbstverständlich halten bzw. aus den Augen verlieren, welchen Schatz sie an ihnen haben. Daher möchte er weder für das eine noch für das andere Modell der Kulturförderung werben, sondern „insgesamt das Bewusstsein dafür erhöhen, wie die Künste positiv auf eine Gesellschaft wirken“.
So geht es ihm bei der Anregung von öffentlichen Debatten oder etwa der Forderung nach einem eigenen Ministerium für die Künste nicht primär darum, wie die Künste zu finanzieren seien. Es geht ihm um den Geist der Kultur, also grundsätzlicher auch darum, ihre gesellschaftliche Bedeutung ins Blickfeld zu rücken. Vielleicht liest man in Besprechungen seiner Aufführungen und Einspielungen deshalb regelmäßig Hinweise auf die mystische Intensität, der enormen Energie und Spannung, mit der der Dirigent mit seinem Orchester in Verbindung zu stehen scheint. Es ist eine Kraft, die auf das Publikum übergeht. Dies spiegelt auch die Art und Weise wider, wie er über das Publikum denkt: So wie er mit seinen Musiker:innen umgeht, so will er auch mit dem Publikum in einem ästhetischen Dialog stehen, somit wirke ein Haus wie die Metropolitan Opera auch in die Stadt und Gesellschaft, deren Bürgerinnen und Bürger das Publikum sind.
„Selbstverständlich will man auch immer das junge Publikum erreichen“, sagt er, „aber man sollte bedenken, dass es nicht so sehr darum geht, ob man ein jüngeres oder älteres Publikum ansprechen möchte. Wesentlich ist, dass sich das Publikum in deinem Haus willkommen fühlt und das, was dort geschieht, genießt und wertschätzt.“
Dienstag, 18. März 2025
Wiener Philharmoniker
Yannick Nézet-Séguin | Dirigent
Yefim Bronfman | Klavier
Ludwig van Beethoven
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 c-Moll, op. 37
Richard Strauss
Ein Heldenleben. Tondichtung, op. 40