Advokat der Moderne: Pierre Boulez zum 100. Geburtstag
Von Ljubiša Tošić
10.03.2025
Beginnt man mit einem kleinen Gedankenexperiment, fordert man Pierre-Laurent Aimards Fantasie heraus, wird es interessant: Was käme ihm als Erstes in den Sinn, wenn er an Pierre Boulez denkt? Nach signifikanter Nachdenkpause hebt Aimard allerdings keinen Einzelaspekt aufs Podest. Es sprudelt aus ihm ein von Respekt getragener Gedankenstrom. „Pierre Boulez war so vieles! Er hat unser Leben aus so vielen Perspektiven heraus bereichert, er war ein großer Denker, immer fokussiert, immer im Kontakt mit der Musik. Sein Wirken ging über das Dirigieren hinaus. Er war auch ein Mann der Praxis, ein Musiker ohne Allüren. Wenn ein Notenpult fehlte, kümmerte er sich auch darum. Galt es, ein Klavier richtig zu positionieren, war er dabei, um das Instrument zu bewegen. Natürlich war er eine Person mit unglaublichem Willen, gesegnet mit dem unbändigen Wunsch, Dinge zu realisieren.“
Boulez konnte, so Aimard, trotz seiner Bescheidenheit natürlich auch „explosiv sein … er verfügte über ein kolossales Temperament, seine Urteile konnten harsch ausfallen“. Man denkt gleich an Boulez’ Aussagen, mit denen er einst Arnold Schönbergs Ästhetik für tot erklärte oder Opernhäuser als reaktionäre Räume definierte, die es in die Luft zu sprengen gelte. Solche Aussagen waren bewusst zugespitzt, waren dem Wunsch nach Erneuerung geschuldet, findet Aimard. Weitere Attribute? „Es war in Boulez auch viel Güte. Dort, wo er der Boss war, war er es nicht im altmodischen Sinne. Boulez war gleichsam ein ständiges Fragezeichen, hat sich also selbst infrage gestellt.“
„Jede Note, die man spielte, wurde von ihm genau gehört, verstanden und dann organisiert. Man konnte nicht anders, als sein Bestes zu geben.“
Pierre-Laurent Aimard über Pierre Boulez
Die erste Begegnung war die eines Fans. Der junge Aimard erbat ein Autogramm von Boulez, mit elf in Bayreuth. Richtig kennengelernt habe man einander, als Boulez erwog, Aimard ins Ensemble intercontemporain zu integrieren. „Er hat mich kontaktieren lassen, ich habe dann für ihn Stücke von Webern und Schönberg gespielt. Für mich war er schon damals mehr als eine Autorität! Er war einer der Intellektuellen seines Jahrhunderts, zu mir gleich direkt, freundlich und positiv. Er fragte mich: ,Wenn man Ihnen vorschlagen würde, Teil des Ensembles zu werden, würden Sie akzeptieren?‘ Ich sagte ,Sehr gerne‘, betonte aber, dass ich dennoch auch Zeit für mich brauchen würde – für meine Unabhängigkeit. Er hat es vollkommen verstanden.“
Später, bei Proben, kamen andere Qualitäten Boulez’ zutage: „Jede Note, die man spielte, wurde von ihm genau gehört, verstanden und dann organisiert. Man konnte nicht anders, als sein Bestes zu geben. Er hat, wie komplex die Stücke auch waren, Aspekte sehr einfach und klar erklärt. Er hat uns oft mit einer Geste den Schlüssel zum Werk gegeben. Man spielte unter ihm einfach besser.“

Durch Boulez’ legendären, äußerlich betrachtet asketischen Dirigierstil habe man sich nicht täuschen lassen dürfen, so Aimard. „Boulez musste nicht herumtanzen. In seiner Hand war alle Information enthalten.“ Äußerlich wirkte alles unscheinbar, „dann aber hörte man die Aufnahme, und siehe da: Es war alles vorhanden.“
Diese Konzentration auf das Wesentliche war auch beim Musikvermittler Boulez zu erleben. „Ohne ihn hätte es viele Werke nie gegeben. Mir fällt Franz Liszt ein. Er hat viel für Kollegen und für die Erneuerung der Musik getan, das trifft auch auf Boulez zu.“ Ob der Universalist, am 26. März 1925 in Montbrison geboren, bedauert hat, nicht mehr komponiert zu haben, weil er als Dirigent so aktiv und überall gefragt war? „Wer weiß das schon? Er wusste es vielleicht“, sagt Aimard, wobei man aus eigener Erfahrung ergänzen darf: Boulez meinte einmal zum Autor, auch das Organisatorische, das er für die zeitgenössische Musik leisten musste, plus das Dirigieren, all das bedaure er nicht sehr. Vielmehr habe er als Komponist davon profitiert.
Aimard bestätig aber, dass Boulez, der in den 1970ern unter anderem Chef des New York Philharmonic war, durchaus langsam komponierte, an Werken schier ewig arbeitete. Boulez’ Schreibmethode nennt Aimard eine Mischung „aus spontanen Impulsen und Kampf mit sich selbst“. Komponieren sei ihm auch eine Art Nachdenken über Musik gewesen. „Er ging oft zurück zu alten Werken, hatte eine sehr labyrinthische Schreibweise. Seine Skizzen zu studieren ist faszinierend. Kurzum: Der Planet Erde hat oft lange auf ein Werk von Boulez gewartet … Er war kein Industrielieferant.“ Boulez’ Stücke, die strukturelle Eleganz und Strenge mit an Impressionismen erinnernde Klangpoesie verbanden, waren mitunter also „Objekte“ ewiger Neudeutung. „Pli selon pli“, in den 1950ern begonnen, fand als Stück für Sopran und Orchester erst 1989 seine endgültige Gestalt; „Répons“ wuchs nach seiner Uraufführung weiter. Und „Notations“, für Klavier komponiert, wurden auch für Orchester weitergedacht. Heißt das auch, dass ein Werk bei Boulez ewig weitergedacht werden sollte, damit eigentlich nie zu Ende ging? „So könnte man es sagen“, meint Aimard.
Bei aller Vielseitigkeit, das sieht auch Aimard: So etwas wie eine Oper gelang Boulez jedoch nicht. Dem Autor hat Boulez erzählte, es habe wohl nicht sein sollen. Alle drei Librettisten, mit denen er zusammengearbeitet habe – Jean Genet, Heiner Müller und Bernard-Marie Koltès –, seien zu früh gestorben.
In Summe aber war Boulez ein überaus erfolgreicher Advokat der Moderne, der auch der Tradition dirigierend lebendige Tiefe verlieh: Boulez vermittelte auch als Stardirigent weiter Zeitgenössisches, förderte junge Kollegen und kämpfte quasi für eine Institutionalisierung von Neuheiten. Er, der sich in seinen letzten Jahren aus gesundheitlichen Gründen zurückzog, war eine Art Trojanisches Pferd des Zeitgenössischen, das Tradition auch zelebrierte, um die Moderne gleichsam in den Konzertbetrieb zu schleusen.
Es ging Boulez, der 1979 an der Pariser Oper die Uraufführung der von Friedrich Cerha komplettierten Fassung von Alban Bergs „Lulu“ dirigierte, darum, den altehrwürdigen Betrieb erneuernd zu befruchten. Auch mit der Hilfe von Interpreten wie Aimard, für den Boulez, der am 5. Jänner 2016 in Baden-Baden 90-jährig starb, nach wie vor präsent ist: „Wenn ich an ihn denke, dann ohne einen Anflug von Nostalgie. Nicht nur, weil Boulez uns das so gelehrt hat. Er hat uns einfach so viel gegeben. Wir tragen denn auch in unserer Kultur, in unserem Benehmen als Musiker und Musikerin etwas von ihm. Es gibt überall etwas von Boulez, es ist gar nicht nötig, extra an ihn zu denken. Was ihm wichtig war, ihn ausgemacht hat, ist überall präsent. Ich versuche in seinem Sinne ein guter Botschafter zu sein, das ist ein Sinn meines Lebens.“
Anekdoten? Gäbe es viele, sagt Aimard. Er will, nach ausgiebiger Nachdenkfermate, allerdings keine erzählen. Als würde dies seinem Respekt widersprechen, als würde es das Vermächtnis von Pierre Boulez beschädigen.
Mittwoch, 26. März 2025
Pierre Boulez zum 100. Geburtstag
Gesprächskonzert
Pierre-Laurent Aimard | Klavier
Werke von Pierre Boulez
Pierre-Laurent Aimard, Daniel Froschauer und Olga Neuwirth im Gespräch mit Stephan Pauly