Von Kindern, Märchen und Blumen: Andris Nelsons dirigiert Dvořák, Mahler und Mendelssohn
Von Walter Weidringer
22.02.2025
„Es war einmal …“ Alle wissen, was auf diese Worte folgt: ein Märchen. In vielen Sprachen der Welt wird betont, wie lang die Ereignisse her seien, von denen man gleich erfahren werde. „Reiz sen senos laikos“, lautet die Phrase auf Lettisch, und so hat sie gewiss auch Andris Nelsons unzählige Male gehört und seiner eigenen Tochter erzählt: „Einst, vor Langem, in längst vergangenen Zeiten …“
Zum Beispiel das Märchen vom König, der sich in das Dorfmädchen Dornička verliebte. Weil ihre Stiefmutter aber ihre leibliche Tochter auf dem Thron sehen wollte, töteten die beiden Dornička, indem sie ihr Hände und Füße abhackten und die Augen herausschnitten. Erst ein hilfreicher Eremit und ein goldenes Spinnrad können die gruselige Geschichte zu einem guten Ende bringen …
Blutrünstig? Traumatisierend gar? Märchenhaft eben. Schon in den 1970er Jahren waren Märchen erstmals erheblich in die Kritik geraten, vor allem wegen der Gewalt, die in ihnen angewendet wird. Aber: „Kinder brauchen Märchen“, so hat es damals der Psychoanalytiker und Kinderpsychologe Bruno Bettelheim ausführlich dargelegt. Posthum ist er selbst in die Kritik geraten, aber seine Thesen erscheinen der Fachwelt bis heute schlüssig: „Wenn unsere Furcht, gefressen zu werden, die greifbare Gestalt einer Hexe annimmt, können wir uns von ihr befreien, indem wir die Hexe im Backofen verbrennen!“
Was „erzählt“ eigentlich Musik? Seit der deutschen Romantik wurde über diese Frage verstärkt nachgedacht.
„Zlatý kolovrat“, das Märchen vom goldenen Spinnrad: 1896 hat Antonín Dvořák diese Kindheitserinnerung an seine Geschichten erzählende Großmutter im ländlichen Nelahozeves (dt. Mühlhausen) aufs Neue fasziniert. Ruhmreich aus den USA heimgekehrt, verspürte der damals 55-Jährige den Drang, die Liebe zu seiner böhmischen Heimat auf neue musikalische Weise auszudrücken. In den poetischen Nach- und Neudichtungen alter Stoffe des Volksguts von Karel Jaromír Erben (1811–1870) fand Dvořák die Inspiration zu fünf großbesetzten, programmatischen „Balladen“, darunter „Das goldene Spinnrad“, op. 109. Danach widmete er sich ganz der Oper, mit der 1901 uraufgeführten „Rusalka“ – noch ein Märchenstoff! – als dem berühmtesten Werk.
Dass Dvořák nach seinen Symphonien mit den „Balladen“ der absoluten Musik den Rücken kehrte, war damals geradezu ein kulturelles Politikum. Denn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts teilte sich die Musikwelt in zwei verfeindete Gruppierungen: Dvořák war als Brahms-Protegé von „konservativer“ Seite auf die internationale Bühne getreten, und der Musikkritiker Eduard Hanslick hatte applaudiert. Nun lief Dvořák aber zur „progressiven“ Gegenpartei über und schrieb Programmmusik nach Art von Franz Liszt und Konsorten! Noch dazu eine so griffige, dass gleichsam jedes Kind anhand von Erbens Versen die Handlung nachvollziehen konnte!

Was „erzählt“ eigentlich Musik? Stehen deskriptive, tonmalerische Klänge auf einer niedrigeren Stufe als ein reines „Denken in Tönen“, eine nur auf sich selbst verweisende Komposition? Seit der deutschen Romantik wurde über diese Frage verstärkt nachgedacht. Hier Programmmusik, dort absolute Musik – und dazwischen alle Graustufen: zum Beispiel in den Symphonien Gustav Mahlers. „Was mir das Kind erzählt“: So wollte Mahler ihn ursprünglich nennen, den siebenten und letzten Satz seiner Dritten Symphonie. Als Vertonung des „Wunderhorn“-Gedichts „Das himmlische Leben“ war dieses Finale geplant: Kindliche Naivität und Unschuld erschien ihm als die einzige noch mögliche Steigerung und Fortführung allumfassender Liebe, zu der er im Konzept des Werkes vorgedrungen war. Dann aber erkannte er, dass das die ohnehin schon monumentale Konzeption sprengen würde. Er strich ihn – und machte ihn dafür, nach einer Kompositionspause von etwa drei Jahren, zum Ausgangspunkt und zugleich zum Ziel seiner Vierten. 1901 in München unter seiner Leitung uraufgeführt, wirkte die Symphonie Nr. 4 dann von Anfang an verstörend – auch deshalb, weil sie so gar nichts mit der triumphalen Monumentalität etwa der Zweiten zu tun hatte, welche das Münchener Publikum aus dem vorangegangenen Jahr noch im Ohr gehabt hatte.
Mahler schien die Probleme geahnt zu haben, sprach 1903 über die Symphonie von einem „verfolgten Stiefkinde, das bis jetzt noch wenig Freude auf der Welt erlebt hat“ und von seiner Erfahrung, „daß Humor dieser Sorte (wohl zu unterscheiden von Witz und muntrer Laune) selbst von den Besten oft nicht erkannt wird“. Im Gegenzug habe freilich auch „die spätere, bis heute anhaltende Popularität des Werks“, so wendet der Mahler-Biograph Jens Malte Fischer klug ein, „etwas nicht Geheures, wie einem das ganze Werk nicht geheuer sein kann, sein muß. Was soll man denn auch von einer ‚Symphonia humoristica‘ halten, in deren Scherzo, dem zweiten Satz, der Tod aufspielt, Freund Hein, der eine um einen Ton höher gestimmte Geige sich greift, damit es recht schreiend und roh klingen solle?“
Tod und Teufel treten da also mit auf die symphonischen Bretter, die die Welt bedeuten – aber es ist eine Art Puppenbühne, bevölkert von Gestalten aus dem Märchen. Und die mögen zwar Furcht einflößen, lassen sich aber nicht selten düpieren und übertölpeln. Vorausgesetzt, die menschlichen Kontrahenten verfügen über die nötige Bauernschläue. Oder, um beim „Goldenen Spinnrad“ zu bleiben, über so viel Liebreiz und Herzensgüte wie Dornička, dass sie einen zauberkräftigen Freund gewinnen und mit dessen Hilfe die bösen Mächte überwinden kann.
Und was erzählen Kinder in Musik? Zugegeben, ein Kind nach heutigen Begriffen war der 14-jährige Felix Mendelssohn nicht mehr, sondern ein Teenager, als er das Doppelkonzert für zwei Klaviere E-Dur geschrieben hat, um es vermutlich seiner vier Jahre älteren Schwester Fanny zum Geburtstag zu schenken. Doch nach welchen Begriffen war Felix schon Kind und Jugendlicher? Und nach welchen Maßstäben Fanny – hätte sie nur dieselbe Förderung und Ausbildung wie der kleine Bruder genießen dürfen und wäre nicht schon früh in die spätere Rolle von Gattin und Mutter gezwungen worden? Jedenfalls haben die Geschwister das Konzert an den zwei Klavieren am 7. Dezember 1823 aus der Taufe gehoben. Märchenhaft, sich da ins Publikum dieser häuslichen „Sonntagsmusik“ hineinzuträumen! In überarbeiteter Fassung hat Mendelssohn das Werk später in London mit dem Freund und früheren Lehrer Ignaz Moscheles gespielt. Als Moscheles das danach in Vergessenheit geratene Konzert 1860 am Leipziger Konservatorium wieder vorstellte, 13 Jahre nach Mendelssohns Tod, tat er es halb verschämt: Den Namen des Komponisten gab er mit „F. Knospe“ an …
Mendelssohns musikalische Blüte hatte sich nach Moscheles’ Ansicht noch nicht geöffnet. Apropos: Gustav Mahler entfernte nachträglich noch gleichsam eine nicht so recht erblühte Blume aus dem Knopfloch seiner Symphonie Nr. 1: deren lyrischen zweiten Satz, überschrieben „Blumine“ – eine heute nicht mehr geläufige Bezeichnung für eine Blumensammlung sowie die eingedeutschte Version des Namens der römischen Blütengöttin Flora. Und er tilgte dabei auch erklärende Satzüberschriften: Er wollte seine Symphonie eben ohne literarische Hilfsmittel „erzählen“.
Dergleichen benötigt auch der Melodienreigen von Dvořáks Symphonie Nr. 8 nicht, obwohl oder gerade weil man bei ihr immer wieder den Eindruck hat, es könnten Texte zu ihren kantablen Themen gesungen werden. Eine Symphonie wie eine blühende Wiese in strahlendem Sonnenschein, doch immer wieder auch von dunklen Wolken überschattet: Der Zufall wollte es, dass gerade diese Partitur Dvořák als Druckmittel diente, von seinem Berliner Verleger Simrock höhere Honorare zu bekommen. Die Fronten verhärteten sich, bis Dvořák die Achte beim Londoner Verlag Novello herausbrachte – und im Scherzo mit einem Zitat aus seiner Oper „Die Dickschädel“ gleichsam durch die Blume zu erkennen gab, dass er sich nicht über den Tisch ziehen lassen wollte. Ergebnis: Ab 1893 zahlte Simrock zähneknirschend, aber fast immer das, was Dvořák sich wünschte …
Von so einem Coup würde wohl jeder noch gerne seinen Enkelkindern erzählen. Dvořáks Achte jedenfalls findet zu einem jubelnden Happyend, wie man es sich nicht ausgelassener vorstellen könnte. Nicht einmal im Märchen.
Gewandhausorchester Leipzig
Andris Nelsons | Dirigent
Nikola Hillebrand | Sopran
Antonín Dvořák
Das goldene Spinnrad. Symphonische Dichtung, op. 109
Gustav Mahler
Symphonie Nr. 4 G-Dur
Gewandhausorchester Leipzig
Andris Nelsons | Dirigent
Lucas Jussen | Klavier
Arthur Jussen | Klavier
Gustav Mahler
Blumine. Zweiter Satz aus der Urfassung der Symphonie Nr. 1 D-Dur
Felix Mendelssohn Bartholdy
Konzert für zwei Klaviere und Orchester E-Dur
Antonín Dvořák
Symphonie Nr. 8 G-Dur, op. 88